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„Echtes Vertrauen zu Putin ist nicht möglich“
12 September 2016 21:26

Die Welt: Wie ist der Stand der Dinge bei der Gewährung von Visumfreiheit für ukrainische Bürger durch die EU? Gibt es da Fortschritte?

Pawlo Klimkin: Ja, ich glaube schon. Es gab noch eine Bedingung, die dafür zu erfüllen war: die Einführung eines elektronischen Deklarierungssystems für alle Einkünfte und Ausgaben von Staatsbediensteten. Dieses System ist zum 1. September in Betrieb gegangen und funktioniert hundertprozentig. Es ist im Hinblick auf die Transparenz des öffentlichen Bereichs übrigens ohne Beispiel. Wir legen mehr Daten offen als in westlichen Demokratien üblich. Die Daten sind dem von uns eingerichteten Anti-Korruptions-Büro unmittelbar zugänglich.

Die Welt: Sie rechnen also mit der Visumfreiheit, obwohl die Stimmung in Europa nicht sehr günstig ist, was die größere Durchlässigkeit von Grenzen betrifft ...

Klimkin: Ich erwarte, dass noch in diesem Monat oder im Oktober das Europäische Parlament über die Visumfreiheit abstimmt und wir eine positive Entscheidung der EU bis November haben. Wir haben ja bewiesen, dass wir alles, was als Vorbedingung für die Visumfreiheit an Reformen in der Ukraine durchzuführen war, tatsächlich ernsthaft umsetzen. Und es ist eindrucksvoll, was in letzter Zeit gerade auf dem Gebiet der Korruptionsbekämpfung geschehen ist. Es gibt jetzt fast täglich Verhaftungen. Der nächste Schritt wird nun sein, alle Beschuldigten vor Gericht zu bringen.

Die Welt: War es hilfreich, dass die EU die Visumfreiheit an Veränderungen in der Ukraine gekoppelt hat?

Klimkin: Wir hätten diese Veränderungen sowieso angehen müssen. Aber es ist unter diesem Druck doch etwas schneller gegangen. Zumal von europäischer Seite genau überprüft wurde, ob die Umsetzung der Reformen wirklich funktioniert. Man muss klar sagen, dass das eine willkommene Hilfe war.

Die Welt: Wo sehen Sie noch den größten Nachholbedarf im Hinblick auf das Erreichen europäischer Standards?

Klimkin: Nach wie vor in der Korruptionsbekämpfung. Dann in der Reformierung des Justizsystems. Es ist sehr wichtig, dass die ukrainischen Gerichte wirklich transparent und effektiv arbeiten. Mit der Polizeireform sind wir bereits weit vorangekommen und müssen sie zu Ende bringen. Eine ganz vordringliche Aufgabe ist aber die Dezentralisierung. Die politischen Eliten müssen vor Ort entscheiden können, wie die lokale Infrastruktur zu entwickeln ist. Dafür sind die lokalen Haushalte deutlich erhöht worden. Es ist wichtig, dass die Entscheidungen nicht mehr von oben nach unten vorgegeben werden.

Die Welt: Wo sich gar nichts tut, ist die Umsetzung des Minsker Abkommens. Ist es überhaupt noch zu retten?

Klimkin: Zunächst einmal: Ich bin gegen diese Terminologie, die das Minsker Abkommen in „Minsk 1“ und „Minsk 2“ einteilt. Man muss Minsk in seiner Gesamtheit betrachten. Sonst kommt man Russland entgegen, das immer nur auf Umsetzung bestimmter Teile des Abkommens besteht. Minsk ist ein Friedensplan, der das Ende der Kampfhandlungen, die Kontrolle des Waffenstillstands durch die OSZE und die Freilassung der politischen Gefangenen im Donbass vorsieht. Ob wir damit vorankommen, liegt in der Entscheidung Russlands.

Die Welt: Woran hapert es auf russischer Seite?

Klimkin: Der russische Präsident Putin sieht Minsk ganz anders, nämlich als Mittel, um die von ihm eingesetzten Machthaber in der Ostukraine zu legitimieren. Er will überhaupt keine Kontrolle der OSZE im Donbass zulassen, keinen Zugang für sie zu den russischen Waffen und zur Grenze zwischen Russland und den okkupierten ukrainischen Gebieten. Sein Ziel ist die Errichtung eines russischen Protektorats, das dann wie ein Trojanisches Pferd für die anhaltende Destabilisierung der gesamten Ukraine sorgt. Für Putin ist das eine Art existenzielle Frage, denn wenn es der Ukraine besser geht, stellt das auch das von ihm in Russland errichtete System infrage.

Die Welt: Ist es dann nicht fiktiv, an Minsk festzuhalten? Oder wie wollen Sie aus der Sackgasse herauskommen?

Klimkin: Das geht nicht ohne politischen Druck von der EU wie der ganzen zivilisierten Welt. Dazu ist es wichtig, dass die Sanktionen in Kraft bleiben, bis wir wirkliche Ergebnisse der Implementierung des Minsker Abkommens sehen. Wir sind aber nicht naiv und wissen, dass das nicht von heute auf morgen geht. Entscheidend ist dabei auch, dass die Ukraine vorankommt, dass sie sich gesellschaftlich und wirtschaftlich weiterentwickelt. Im Westen wird oft nicht verstanden, dass die Ukraine nicht mehr dieselbe ist wie vor den Protesten auf dem Maidan. Die Ukrainer verstehen jetzt, dass es Unabhängigkeit nicht umsonst gibt, sondern dass Freiheit etwas ist, um das man kämpfen muss. In gewisser Weise hat die russische Aggression die Ukraine somit sogar gestärkt.

Die Welt: Sind Sie sicher, dass dieses neue Selbstbewusstsein nachhaltig ist? Oder droht ein Rollback, sollte die Lage der Ukraine noch jahrelang so schwierig bleiben?

Klimkin: Nein, diese Entwicklung ist unumkehrbar. Die Alternative ist jetzt: Entweder die Ukraine ist erfolgreich, oder es gibt sie als ein einheitliches, europäisches Land nicht mehr. Das ist für uns tatsächlich eine Existenzfrage. Und auch die EU sollte dies als existenzielle Frage verstehen.

Die Welt: Nun bröckelt die Sanktionsfront in der EU aber doch eher. Fürchten Sie nicht, dass die Sanktionen kommendes Jahr aufgehoben oder zumindest abgeschwächt werden?

Klimkin: Ich glaube, das ist ganz fundamental für die Zukunft der EU insgesamt. Wenn man jetzt sagt, wir können gegen Russland, das sich an keine Regeln hält, nichts machen, wir geben deshalb nach und kündigen unsere Solidarität auf, wird das Konsequenzen für das Selbstverständnis der EU und für ihre Glaubwürdigkeit vor sich selbst und in der Welt haben. Das Problem ist, dass Europa keine einheitliche Strategie hat und es ihm an gemeinsamem politischem Willen gegenüber Russland fehlt. Dieses Problem geht weit über das hinaus, was im Augenblick im Donbass geschieht.

Die Welt: Fürchten Sie, dass nach den kommenden Wahlen in den USA, in Frankreich und Deutschland Regierungen an die Macht gelangen, die mehr oder weniger offen Putin-freundlich sind?

Klimkin: Das besorgt mich schon. Ich kann aber nicht darüber spekulieren, wer in anderen Ländern Wahlen gewinnen wird. Wir werden weiter dafür kämpfen, dass die Solidarität in EU und G7 erhalten bleibt. Wir werden jedenfalls nicht nachgeben, denn es geht hier um die Zukunft der Ukraine.

Die Welt: Wie sähe denn Ihrer Meinung nach eine kohärente Strategie des Westens gegenüber Russland aus?

Klimkin: Sicher braucht Russland eine Zukunftsperspektive. Das System Putins ist in dieser globalen Welt ja eigentlich überholt, oder sagen wir: Es ist zumindest nicht das effizienteste System. Doch darüber muss in Russland selbst entschieden werden. Der EU aber würde die Entwicklung einer kohärenten Strategie neue Dynamik verleihen. Dazu muss man erst einmal fragen, was man von Russland eigentlich erwarten kann. Es ist ein europäisches Land, aber mit einer anderen Mentalität, einer anderen Gesellschaft und anderen Werten. Das russische Interesse liegt darin, die EU weiter zu schwächen und dann mit einzelnen Ländern parallel zu reden, um sie gegeneinander auszuspielen.

Die Welt: Wie geht Moskau dabei vor?

Klimkin: Der Kreml unterstützt direkt oder indirekt politische Kräfte von links bis rechts in der EU, um das europäische Wertesystem zu unterminieren oder grundsätzlich zu verändern. Die Propaganda, die aus Moskau herüberdringt, ist ohne Beispiel. Um dem glaubwürdig entgegenzutreten, braucht die EU einen gemeinsamen politischen Willen. Man muss für die Zukunft deutliche rote Linien ziehen, die Russland nicht überschreiten darf.

Die Welt: Wie stehen Sie denn zu Initiativen von Frank-Walter Steinmeier wie der für eine neue Rüstungskontrolle? Der deutsche Außenminister betont ja immer stärker, wir bräuchten ein neues Vertrauensverhältnis zu Russland?

Klimkin: Man muss klar zwischen vertrauensbildenden Maßnahmen zur Rüstungskontrolle und einem Vertrauensverhältnis zu Russland unterscheiden. Durch vertrauensbildende Maßnahmen und Rüstungskontrolle im Rahmen der OSZE wird es viel schwieriger, den hybriden Krieg zu führen und einfach 2000 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge in den Donbass zu bringen. Doch ein echtes Vertrauensverhältnis zu Russland ist momentan nicht möglich, nicht nur wegen des aktuellen hybriden Kriegs in der Ostukraine.

Die Welt: Warum?

Klimkin: Zu einem Land mit einer Führung, die sich vorsätzlich an keine Regel hält, kann es für die EU ein solches Verhältnis nicht geben. Gewiss muss man weiter mit Russland sprechen. Russland ist eine Realität – auch wenn man sie, betrachtet man die dortigen Verhältnisse, für eine virtuelle Realität halten könnte. Aber Vertrauen in Russland – das ist für einige Zeit vorbei. Um es wieder aufbauen zu können, muss sich erst Russland ändern.

Die Welt: Die Ukraine wünscht sich von der EU Waffenlieferungen, was diese ablehnt. Welche Waffen brauchen Sie konkret am dringendsten?

Klimkin: Man muss zwischen defensiven und Angriffswaffen unterscheiden. Defensive Waffen brauchen wir unbedingt. Das wird die Lage im Donbass nicht weiter verschärfen, aber uns helfen, dafür zu sorgen, dass sich auch Russland an Grenzen hält. Es geht dabei um elektronische Waffen, Kommunikationstechnik und Panzerabwehrwaffen. Die kann man nicht zum Angriff benutzen, aber wenn man uns attackiert, wären sie für uns schon eine Art Garantie.

Die Welt: Haben Sie noch die Hoffnung auf einen Beitritt zur Nato, oder haben Sie das als Illusion abgeschrieben?

Klimkin: Es ist aufschlussreich, dass der russische hybride Krieg gegen die Ukraine die Zustimmung zum Nato-Beitritt in der Ukraine vehement nach oben gebracht hat. Vor drei Jahren waren etwa 19 Prozent der Ukrainer für den Beitritt, heute sind es mehr als 60 Prozent. Sie sehen darin nicht nur die Sicherheitsgarantie, sondern auch die Möglichkeit, dadurch die Nato-Standards für unsere Streitkräfte zu erreichen. Wir haben uns das Ziel gesetzt, diesen Standard bis 2020 zu erreichen. Dann sehen wir weiter. Aber die Nato ist für uns jedenfalls die einzige Allianz, die auf unseren Werten basiert.

Die Welt: Die Nato verstärkt gerade ihre Präsenz in Osteuropa und im Baltikum. Halten Sie das für ausreichend?

Klimkin: Ich habe oft gesagt, dass die Ukraine eine Art östliche Flanke der Nato ist, wenn auch nicht formell. Entscheidend ist nicht nur die Truppenpräsenz, sondern der Zusammenhalt und die Solidarität. Dass man wirklich mit einer Stimme spricht. Dass man gemeinsame Pläne hat und den Willen, sie zu implementieren. Deutschland wird hierbei eine ganz entscheidende Rolle spielen, nicht nur regional, sondern global. In der Ukraine erfüllt es diese Rolle bereits, aber Deutschland wird noch weiter gehende Verantwortung übernehmen müssen.

Die Welt: Wo sehen Sie die Ukraine in zehn Jahren? Was ist das Best-Case- und was ist das Worst-Case-Szenario?

Klimkin: Ein Worst-Case-Szenario gibt es für uns nicht. Das Best-Case-Szenario: Da sehe ich die Ukraine als Land mit demokratischen Strukturen, die nachhaltig funktionieren und die wirtschaftliche Entwicklung voranbringen. Aber ich sehe die Ukraine auch als Land, das die europäische Gesellschaft voranbringen kann. Die Ukraine gehört geschichtlich und mental zu Europa.

Die Welt: Paradoxerweise ist der Glaube an Europa in der Ukraine stark, während er in der EU selbst immer mehr schwindet ...

Klimkin: Fällt Ihnen irgendein anderes Land ein, in dem man so engagiert für die Zukunft kämpft, wie die Ukraine? So charismatisch, mit so viel Leidenschaft? Das sind ja nicht nur 2000 oder 20.000 Leute. Es ist wirklich das ganze Land. Diese Energie und diese Bereitschaft weiterzukämpfen braucht auch Europa. Die Zukunft mag nicht rosig aussehen, aber Europa hat enorme Chancen. Es liegt an unserer Bereitschaft, was wir daraus machen.

Die Welt: Die Ukraine also als Turbo, als Erneuerer der europäischen Werte?

Klimkin: Vielleicht nicht ganz. Wir sind aber jedenfalls durch die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine in diesen Werten bestärkt worden. Wir verstehen jetzt, was es bedeutet, für etwas zu kämpfen. Diese neue Energie und dieses neue Verständnis für die Zukunft braucht auch Europa insgesamt.

Die Welt, Pavlo Klimkin, Minister of foreign affairs of Ukraine

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