"Wiener Zeitung": Am 25. Mai wählt Europa ein neues Parlament, die Ukraine einen neuen Präsidenten. Wie hängen diese beiden Wahlen zusammen?
Andrij Deschtschiza: Der 25. Mai ist ein symbolträchtiges Datum. An diesem Tag stimmt Europa über seine Zukunft ab und das ist auch jener Tag, an dem die Ukraine über ihre europäische Zukunft abstimmt.
Inwieweit ist die Ukraine ein europäisches Thema?
Die Ukraine steht im Moment bei den internationalen Organisationen und den europäischen Regierungen auf der politischen Tagesordnung ganz oben. Die Situation in Europa hat sich seit dem Februar 2014, seit dem Sturz des Regimes von Viktor Janukowitsch, stark verändert. Wir haben nun erstmals seit dem Einmarsch in der Tschechoslowakei und in Afghanistan ein Russland, das die existierenden Grenzen missachtet, ein Russland, das internationale Übereinkünfte missachtet. Russland hat demonstriert, dass man jederzeit die Grenzen in Europa verschieben kann, dass man jederzeit in ein anderes Land einmarschieren kann. Wenn man Russland dabei nicht stoppt, dann haben wir nicht nur eine Konfrontation Russlands mit der Ukraine, sondern eine mit Europa.
Die Ukraine fühlt sich oft unverstanden, Europa wisse zu wenig über das Land, wird beklagt.
Die Ukraine war früher den Europäern nicht allzu sehr bekannt. Heute ist das aber anders. Nicht nur wegen der Invasion Russlands, sondern auch wegen der Euromaidan-Demokratiebewegung und der Revolution in der Ukraine am Beginn dieses Jahres. Viele Europäer verstehen nun: Die Ukrainer wollen nicht viel anderes als das, was die meisten Europäer auch wollen. Daher denke ich, dass die Ukraine ein Symbol für den Wunsch der Menschen nach einer demokratischen Entwicklung, ein Symbol für das Streben nach demokratischen Werten, ein Symbol für das Verlangen nach europäischen Werten wurde. Die europäischen Länder sind nun geeint in der Unterstützung der Ukrainer in ihrer Konfrontation mit Russland und verlangen von Russland, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine zu respektieren. Europa hat jedes Interesse, die existierende Weltordnung zu verteidigen. Da muss man konsistent darin bleiben. Wenn es Russland gelingt, Europa in dieser Frage zu spalten, verlieren alle.
Aber passiert es nicht noch bereits? Besonders Stimmen aus Deutschland warnen immer wieder davor, die russischen Interessen zu ignorieren.
Natürlich muss man Russlands Interessen sehen. Aber wir sollten vor lauter Verständnis für Russland nicht die russische Aggression auf der Krim vergessen, oder die Verletzung von Abkommen mit der Ukraine.
Die Europäische Union, einzelne europäische Länder, darunter auch Österreich, haben kein Interesse daran, Russland allzu sehr vor den Kopf zu stoßen. Da geht es den Europäern vor allem um Wirtschaftsinteressen, die es zu wahren gilt.
Ich würde davor warnen, nur auf die Wirtschaftsinteressen zu achten. Denn niemand weiß, was die Pläne des russischen Bären, was die Pläne Wladimir Putins sind. Wo wird er stoppen? Die Krim ist annektiert, Russland unterstützt die extremistische Bewegungen in der Ost-Ukraine, unterstützt Provokationen in der Süd-Ukrainer. Reicht Russlands Appetit bis zur ukrainisch-polnischen Grenze? Russland darf es nicht erlaubt sein, die die Situation weiter eskalieren lassen, Russland darf es nicht länger gestattet sein, das Gleichgewicht in der Region aud der Balance zu bringen.
Wie beurteilen Ihre Kollegen in Weißrussland oder Kasachstan Russlands Politik gegenüber der Ukraine?
Man fühlt sich bedroht. Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko hat versichert, dass weißrussisches Territorium niemals von russischen Truppen benutzt werden dürfe, um Militäraktionen in der Ukraine durchzuführen. Zudem verstehen alle Partner, dass das russische Argument, es gehe um den Schutz der russischsprachigen Minderheit außerhalb Russlands, nichts als ein billiger Vorwand ist. Denn eine Invasion ist nicht der Weg, wie die Interessen von Minderheiten im 21. Jahrhundert geschützt werden, da gibt es heute ganz andere Mittel und Möglichkeiten, das zu tun. Zudem hat die Ukraine stets die Minderheitenrechte respektiert, wir brauchen wir keine russische Militärpräsenz, um die russischsprachige Minderheit in der Ukraine zu schützen. Ich glaube, dass das unsere Nachbarn wie Weißrusslands oder Kasachstan auch so verstehen. Daher sind sie auch sehr vorsichtig, was die russische Rhetorik und die russischen Aktionen betrifft.
Einige europäische Analysten fürchten, dass Russland Europa in die Zange nehmen will: von der russischen Exklave Kaliningrad im Nordosten bis Transnistrien im Südosten Europas.
Zuerst einmal: Wir Ukrainer glauben immer noch daran, dass es eine diplomatische und politische Lösung im Konflikt mit Russland gibt. Aber sie haben natürlich recht: Es gibt auch andere Orte in der Region, die potenzielle Hotspots in einem nächsten Konflikt werden könnten. Besonders bedrohlich scheint mir der Gedanke, dass es Putins Plan sein könnte, eine Verbindung zu Transnistrien und damit eine riesige Zone der Instabilität zu schaffen. Kaliningrad ist tatsächlich ein weiterer möglicher Hotspot, auch die baltischen Republiken könnten zum Ziel russischer Interessen werden. Wir müssen verhindern, dass Russland diese Instabilitätszonen ausgeweitet. In einer gemeinsamen Anstrengung der Europäischen Union mit den Amerikanern müssen wir über eine nichtmilitärische Strategie nachdenken, mit der wir uns Russland entgegenstellen. Die tauglichsten Instrumente scheinen mir Sanktionen gegen die russische politische Elite zu sein.